Zur Strafe Künstler sein

Zur Strafe Künstler sein

Frankfurter Rundschau vom 12.06.2012, von Sabine Hamacher

In der Oberurseler Bildhauerwerkstatt Kunsttäter können straffällig gewordene junge Frauen und Männer ihre Sozialstunden ableisten, indem sie Skulpturen und Collagen schaffen.

In der Oberurseler Bildhauerwerkstatt Kunsttäter können straffällig gewordene junge Frauen und Männer ihre Sozialstunden ableisten, indem sie Skulpturen und Collagen schaffen. Da ist er ganz ehrlich: Luca (Name geändert) ist eigentlich nur hier, weil die Kunsttäter-Werkstatt so nah für ihn liegt. Nur fünf Minuten braucht er von zu Hause bis zu der ehemaligen Schlosserwerkstatt der Oberurseler Feldbergschule, in der er seine Sozialstunden ableisten kann. Aber wie er da mit der Hand über das Holz streicht, aus dem er in 30 Arbeitsstunden einen Kopf geschnitzt hat, wie er die Skulptur dreht und wendet und erklärt, dass er zunächst eine Schale aus dem Klotz Nadelholz machen wollte, dann aber „die organische Struktur aufgenommen“ und plötzlich ein Gesicht darin gesehen hat – wie er so redet, wird deutlich, dass es eine gute Entscheidung war.

„Der kann richtig toll mit Holz umgehen, er hat ein Händchen dafür“, sagt die Bildhauerin Regina Planz, die zusammen mit dem Kunsttherapeuten Andreas Hett das Team der Bildhauerwerkstatt Kunsttäter bildet. Seit zwölf Jahren bieten sie straffällig gewordenen jungen Menschen zwischen 14 und 24 einen Ort, an dem sie Sozialstunden – also „erzieherische Maßnahmen“ nach dem Jugendgerichtsgesetz – absolvieren können, indem sie Kunstwerke schaffen. Die hier entstandenen Skulpturen und Collagen werden regelmäßig in Ausstellungen gezeigt und stehen zum Verkauf; seit Ende Mai sind die Produktion des vergangenen Jahres und ein paar ältere Werke im Frankfurter Haus am Dom zu sehen.

Die Kurve gekriegt

Schon mehr als 350 junge Leute haben die Werkstatt durchlaufen. „Wir haben keine Schwerverbrecher hier, das sind alles niedrigschwellige Delikte“, sagt Hett. „Wir wollen da ansetzen, dass es gar nicht zur Kriminalität kommt.“ Sie haben zu oft die Schule geschwänzt, Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Drogendelikte begangen. Oder sind, wie Luca, im Straßenverkehr aufgefallen. „Ich bin mit dem Roller zu schnell gefahren, und das auch noch auf dem Radweg“, sagt der 17-Jährige, der für die Kollision mit einem Radfahrer schuldig gesprochen wurde. Die 30 Sozialstunden, die er dafür leisten muss, hätte er im Altenheim, im Tierheim oder mit Hausmeisterarbeiten in einer Schule abbrummen können. Doch weil er bei der Jugendgerichtshilfe seine künstlerische Begabung erwähnte, nannte diese ihm die Kunsttäter-Werkstatt. Hier können sich montags, dienstags und mittwochs junge Delinquenten aus dem gesamten Vordertaunus an Stahl, Holz oder Ytong versuchen. Welches Material sie wählen, bleibt ihnen überlassen; auch, was sie daraus machen. Sie können selbst entscheiden, wann sie kommen, müssen sich aber an strikte Regeln halten: In der Werkstatt, groß wie eine Turnhalle, sind Drogen absolut verboten; Handys bleiben aus und die 15-Minuten-Pause darf nicht überzogen werden. Dass jemand rausgeschmissen werden musste, ist aber erst einmal passiert. „Der hatte einen anderen zum Kiffen angestiftet“, erzählt Planz. Erfolgsgeschichten gibt es hingegen einige. Zum Beispiel das Mädchen, das wegen Körperverletzung Schulverbot in ganz Hessen hatte. „Die hat sich in der Zeit hier bei uns so gut gemacht, dass wir ihr einen Schulbesuch vermittelt haben“, sagt Planz. Jetzt hat das Mädchen den Hauptschulabschluss, „die hat die Kurve gekriegt“. Planz erzählt, dass seit etwa zwei Jahren immer mehr Mädchen bei den Kunsttätern landen. Einen großen Unterschied sieht sie im Verhalten: „Die Mädchen bleiben auf Distanz, sie schämen sich für ihre Taten, während die Jungs sich damit brüsten.“ Die Jungen seien auch wesentlich mitteilungsfreudiger. „Sie kommen auch später mal vorbei und erzählen, was aus ihnen geworden ist.“

Eine Chance sich selbst zu entdecken

So zum Beispiel Minh – auch einer, „der sich gefangen hat“, wie Planz sagt. Zu den Kunsttätern kam er, weil er Schule schwänzte und mit Drogen zu tun hatte. In der Ausstellung im Haus am Dom kann man lesen, welche Erfahrung Minh als Künstler gemacht hat: „Ich habe viel gelernt, so Sachen, die ich vorher nicht konnte, und ich hätte auch nie gedacht, dass ich so was könnte.“ Damit entspricht er den Vorstellungen des Kunsttäter-Teams, das den Jugendlichen in der Werkstatt eine Chance bieten will, sich selbst neu zu entdecken – über Fähigkeiten, die sie bei der Arbeit entwickeln. Die Werkstatt versteht sich nicht als resozialisierende Einrichtung, sondern will ermöglichen, dass sich die jungen Straftäter über die Kunst mit sich selbst auseinandersetzen. Wenn sie dabei zur Reflexion finden, umso besser. So ist die Collage „Verletzter Kopf“ Hetts Lieblingsstück in der Ausstellung: Auf einem Metallpodest sitzt vor einer Holzplatte mit roten Spritzern ein weißer Kopf aus Modelliermasse. „Ein sehr authentisches Werk, das sehr klar eine Tat reflektiert“, sagt Hett. Gefertigt hat es ein Jugendlicher, der auf einer Party einen anderen jungen Mann mit einem Aschenbecher am Kopf verletzte, weil der seine Freundin beleidigt hatte. Das Vergehen, das letztlich in die Kunsttäter-Werkstatt führte, lässt sich aber an den meisten Werken nicht ablesen. Es gibt sogar Niedliches: Seehunde, Blumen oder eine Entenfamilie aus Speckstein. „Ohne Druck der Peergroup auch mal ein Weichei sein, mal ein Tierchen malen“ – auch das sei vielen ein Bedürfnis, sagt Hett. Seine Kollegin hat festgestellt, dass die meisten der Jugendlichen sich schwertun, wenn sie bei den Kunsttätern mit der Arbeit anfangen sollen. „Aber wir zwingen sie auch“, sagt Planz. „Wir schreiben ihnen ganz klar nur die Stunden auf, in denen sie auch arbeiten und nicht nur in der Ecke hängen.“ Dennoch versteht sie, dass der Anfang schwerfällt: „Man muss bei der Bildhauerei viel Geduld aufbringen, bis man etwas sieht.“ Wenn diese Hürde überwunden ist, wollten sie ihr Werk aber unbedingt fertig machen. An dem „Schlangendrachen“ aus Pappelholz etwa, der jetzt im Erdgeschoss im Haus am Dom steht, haben 2006 knapp 20 Jugendliche ein Dreivierteljahr geschnitzt. „Die Jungs sind trotz der Fußballweltmeisterschaft gekommen.“ Geduld und Ausdauer sind auch für Luca, den Holzkopf-Schnitzer, kein Problem. Heute ist sein letzter Tag. Er darf schweißen. „So was habe ich noch nie gemacht. Insofern nimmt man schon etwas mit“, sagt er. Dennoch hat er die 30 Stunden in der Werkstatt als Strafe empfunden. „Ich wüsste schon Besseres mit meiner Freizeit anzufangen.“ Nun muss er nur noch einen Ständer für den Kopf mit einer Platte verbinden. Die Funken fliegen. Dann ist Luca fertig, lässt seinen Stundenzettel unterschreiben und zieht von dannen. Zurück in ein Leben, in dem er Fachabitur machen und Koch werden will.